Ohne Begegnung kein Business

Gipfeltreffen Messe & Virtual Reality

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Digital? Physisch? Hybrid? Analog? Hamburgs Messe-Chef Bernd Aufderheide und Matthias Wolk, Gründer und Inhaber von VRtualX, diskutieren, wie die Zukunft der Messebranche gelingen kann.

PRODUKTION & MODERATION  Ulrike Fischer
FOTOS  Catrin-Anja Eichinger

Kurz vor neun Uhr morgens im Hamburger Brahms Kontor. Der Raum in der Konferenzetage mit dem schönen Namen „Symphonie“ im II. Stock wurde coronagemäß gelüftet, aber großes Aufwärmen ist für dieses Gipfeltreffen ohnehin nicht nötig: VRtual X-Chef Matthias Wolk war schon eine Runde joggen um die Alster, Bernd Aufderheide ist ein bisschen in Eile, er bekam kurzfristig einen Anschlusstermin herein und muss pünktlich um zehn Uhr weiter. Die Herren kennen sich, also legen wir zügig los:

 

Vorab an Sie beide die Frage: Wie haben Sie die letzten Monate erlebt, wo stehen Sie jetzt?

Matthias Wolk (MW): Als Virtual Reality Marketing Agentur brachen unsere Umsätze schon ab Februar 2020 um bis zu 80 Prozent ein – wir konnten die Storno-E-Mails gar nicht so schnell lesen, wie sie reinkamen! Da kann man entweder den Kopf in den Sand stecken oder nach vorne blicken und nach neuen Möglichkeiten suchen. Wir haben uns für Letzteres entschieden und dann relativ zügig eine virtuelle Software-Plattform für Events, Messen und Kongresse aufgebaut. Bis Ende des Jahres haben wir rund 50 Events, von der Sportveranstaltung bis zum Dental Kongress, an den Start gebracht. Es war unglaublich herausfordernd, aber es hat sich gelohnt.

Bernd Aufderheide (BA): Bei uns herrschte, wie bei fast allen Messebetreibern, absoluter Stillstand. Eine Messe nach der anderen wurde abgesagt. Die ersten Veranstaltungen, die wir im März nicht machen konnten, wollten wir dann im Juni nachholen, es konnte ja keiner wissen, wie sich alles entwickelt. Jetzt bleibt die Frage, wann sich wieder Menschen begegnen können und unter welchen Voraussetzungen. Internationale Kongresse buchen mit einem Vorlauf von drei bis sechs Jahren. Wenn da keine Planungssicherheit gegeben ist, ist das gesamte Geschäft in Gefahr. 

Aktuell können sich die ersten Hamburger*innen in der Messehalle 3 gegen Covid-19 impfen lassen, in Zukunft könnte dadurch wieder mehr Planbarkeit für Präsenzveranstaltungen entstehen. Was wird sich dann ändern?

BA: Abgesehen von neuen hygienischen Standards eigentlich erst mal gar nichts. Messen, so ist das gesetzlich definiert, sind eine physische Veranstaltung. Wir haben Hallen, die müssen betrieben und bezahlt werden. Dahinter steckt natürlich auch das Interesse unserer Gesellschaft: Kommunen und Bundesländer möchten, dass Menschen in die Stadt kommen. Damit sind bundesweit rund 190 000 Arbeitsplätze verknüpft, die Wertschöpfung liegt bei 21 Milliarden Euro – da haben sich manche in der Politik in jüngster Zeit die Augen gerieben. Hotellerie, Gastronomie, Messebau, Handwerker, Lichtleute, etc. – wir sind ein „Hidden Champion“. Und wenn der wackelt, stellt uns das alle vor Probleme. Andererseits: Als in den 1990er Jahren das Internet aufkam, prophezeiten viele das Ende der Messen, weil sich alles ins Internet verlagern würde. Das ist nicht passiert, im Gegenteil: Bis März dieses Jahres lagen die Wachstumsraten seit der Jahrtausendwende bei jährlich 12 bis 14 Prozent. Menschen wollen sich treffen und fühlen sich viel wohler, wenn sie sich gegenübersitzen. Das ist doch auch hier so (lacht). Ich bin überzeugt: We’ll be back!

MW: Das kann ich nur unterschreiben! Menschen wollen sich sehen, brauchen die Begegnung. Auch wir bei VRtual X glauben nicht an die Techno-logie, sondern an die Menschen. Die Frage ist für uns, wie können wir Technologie sinnstiftend und gewinnbringend einsetzen und nutzen? Das Schlagwort Hybrid-Events geistert ja aktuell durch die Räume. Vielleicht kann man sich da zusammentun und auf neue Ideen kommen. Virtualisierung und Digitalisierung sind auf jeden Fall ein Zusatzangebot. 

Wie könnte denn so ein Hybridmodell funktionieren?

MW: Ich bin kein Messe-Experte, das ist Herr Aufderheide. Ich vermute aber, das Unternehmen in Zukunft überlegen werden, ob sie Mitarbeiter*innen aus Asien, USA etc. nach Hamburg schicken. Und dann ist die Frage, wie kann ich das physische Angebot vor Ort digital ergänzen. Wie kriegen wir die Verzahnung hin? Kürzlich hatte ich einen Call mit einem Messebauer. Da ging es um simple Dinge, wie man QR-Codes anbringt oder den Stand für Augmented Reality nutzt. Wie man sich virtuell von außen auf den Messestand dazuschalten kann oder umgekehrt einen virtuellen -Zwilling erzeugt, also eine virtuelle Verlängerung. Die Vorteile: Zum einen kann ich zusätzliche Reichweite erzeugen, zum anderen braucht man in diesen Zeiten auch immer einen Plan B. Wenn ich vier Wochen vorher erfahre, dass ich meine Messe real nicht durchführen kann, brauche ich eine Alternative. Das Beste aus beiden Welten, da wollen wir hin!

BA: Da muss man auch differenzieren: Geht es um eine Konsumgütermesse oder beispielsweise Fachmessen im Investitionsgüterbereich. Ich kann mir nicht vorstellen, dass bei Großaufträgen im Maschinenbau, wo Kunden ja auch Vergleichsmöglichkeiten suchen und erleben wollen, wie eine Firma tickt, alles nur virtuell stattfindet. Nur weil etwas digital ist, ist es nicht zwangsläufig erfolgreich. 

MW: Was ganz gut funktioniert, sind virtuelle Showrooms. Da die Leute auf den Messen nichts zeigen können, brauchen sie eine Möglichkeit, sich anderweitig zu präsentieren. Einer unserer Kunden veranstaltet jetzt eine dreimonatige Hausmesse, zu der er aus der ganzen Welt einlädt. Mit Livestreams und allem, was dazugehört. Aber natürlich denken wir da auch weiter, zum Beispiel wie er seine Module nutzen kann, wenn das reale Messeleben zurück ist.

BA: Da müssen wir noch mal die Begrifflichkeiten klären: Es ist doch etwas völlig anderes, ob eine Firma im Internet seine Produkte präsentiert oder ich als Besucher unzählige Mitbewerber zum Vergleich besichtigen kann. Was wir aktuell haben, sind überzeugende Produktpräsentationen einzelner Firmen – mehr aber auch nicht.

MW: Da möchte ich widersprechen! Wir sind dieses Jahr ganz disruptiv in verschiedene Märkte reingegangen. Landwirtschaft, Dentalbranche, Kupferdrahtindustrie – Branchen, von denen wir inhaltlich keine Ahnung haben. 2020 haben wir virtuelle Formate aus dem Boden gestampft, die es so noch gar nicht gab. Auch weil wir in Branchen gegangen sind, die da sonst eher zurückhaltend agieren. Für uns wichtig: Wir haben uns mit dem jeweiligen Marktführer zusammengetan. Der hatte die Kontakte und die Expertise, wir das digitale Know-how.

Haben Sie ein konkretes Beispiel?

MW: Der erste virtuelle Feldtag für die Landwirtschaft zum Beispiel. Wir haben mit unseren 3-D-Leuten virtuell ein Feld nachgebaut und dieses Event in Eigeninitiative innerhalb von zwei Monaten aus dem Boden gestampft. Die über 40 Aussteller haben mit mehreren Tausend Gästen ein gutes Geschäft gemacht – und wir auch. Danach stellten wir den „Virtual Dental Summit“ auf die Beine. Ein Kongress für Zahnärzt*innen. Auch da hatten wir aus dem Stand 3000 Teilnehmer*innen, konnten 35 Messestände vermarkten – der Bedarf ist da! Aktuell lief die Virtual Coil Show, ein Tag für die Unternehmen in der Kupferindustrie mit 45 Ausstellern und einem zehnstündigen Liveprogramm mit Live-Symposien, Panels, Pressekonferenz und allem Drum und Dran. Richtig spannend wird es aber in Zukunft: Wir hatte bereits ein Meeting mit dem Veranstalter, der im September wieder real durchstarten will. Unsere virtuelle Show soll da als eigenständige Marke integriert werden. Aber was ganz klar ist: Dazu wollen und müssen wir mit den traditionellen Messebetreibern zusammenarbeiten – denn wir haben schlicht keine Ahnung vom Messemachen. 

Also kann die traditionell Messe von digitalen Formaten profitieren?

BA: Richtig analog sind unsere Messen ja ohnehin nicht mehr. Wichtig ist doch, dass man die Bedürfnisse der Kunden im Blick behält. Was braucht die Zielgruppe? Viele sind da ja auch verunsichert und irritiert. Unsere viertägige Wind-Energy Messe haben wir letztes Jahr sehr aufwendig produziert. Mit TV-Studios und modernster Technik in Brüssel, UK und Hamburg. Was kostet das, was bringt das? Das müssen wir auswerten. Es ist letztendlich eine Testphase, in der wir uns befinden. 

MW: Traditionelle Messeformate einfach digital nachzubauen macht zukünftig keinen Sinn mehr. Wir haben zwar auch erst mal die alte Betonhalle nachgebaut, um die Leute „abzuholen“. Aber in Zukunft kommt es auf ganz andere Dinge an. Wie sieht sie aus die Kundenreise? Es macht keinen Sinn, einen Messestand mit unzähligen PDFs und Bildern zuzupflastern, das findet man doch alles auf der Website. Ein Kunde, der aus der Schifffahrt kommt, wird zukünftig in 360 Grad durch sein Containerschiff gehen und virtuell genau dort Produkten begegnen, wo sie sinnvoll sind. Ich kann eine Geschichte erzählen, die Leute an die Hand nehmen und Erlebnisse bieten, die es so in der realen Welt nicht gibt. 2021 werden Events, Showrooms und Plattformen schon ganz anders aussehen.

Aber was wird aus den Tourguides, der Hotellerie, allen, die real dranhängen?

BA: Ganz klar wird sich einiges ändern, es werden Arbeitsplätze wegfallen, aber auch neue entstehen. Der Städtetourismus wird sich verändern, allein, weil die Billig-Fliegerei – zu Recht – so nicht mehr stattfinden wird, die jungen Leutehaben durch Fridays for Future auch ein ganz anderes Bewusstsein. Dennoch: Hamburg hat mit seinem nicht zu großen Messegelände und der zentralen Lage gute Chancen zu bestehen.

MW: Wir haben vergangenes Jahr unser Team von zehn auf fast 30 Leute aufgestockt, viele kommen aus der Eventbranche. Da hat die Verlinkung zwischen alter und neuer Welt sehr gut funktioniert. Aber sicherlich ist das nur ein kleiner Bereich.

Ausblick 2030: Wo sehen Sie sich, Herr Aufderheide, wie sieht Hamburg aus?

BA: (lacht) Da sitze ich hoffentlich auf einer Bank in Planten un Blomen vor dem schönen Café Seeterassen und beobachte die vielen Besucherinnen und Besucher unseres neuen CCH. Neben mir auf der Bank: OMR-Gründer Philipp Westermeyer, der so viel verdient hat, dass er nicht mehr arbeiten muss – gemeinsam freuen wir uns über die vielen Projekte, die wir realisiert haben. Das Grundbedürfnis des Menschen, sich zu begegnen wird nicht verschwinden. Das sieht man doch schon an dem Erfolg eines Events wie den Online Marketing Rockstars (OMR). Da sitzen in der Messehalle Tausende Digital Natives vor ihren Laptops – und trotzdem wollen sie sich alle treffen und gemeinsam etwas erleben! Außerdem kommt es auf das Zusammenspiel vieler Akteure an: Unsere Stadt hat so unglaublich viel zu bieten, die Leute haben einfach Bock auf Hamburg.

MW: Mein Ausblick 2030: Ich sitze nicht in Hamburg, sondern in Hohwacht auf dem Deich, und gucke aufs Wasser. Hamburg ist nach wie vor die schönste Stadt der Welt, eine ganz nachhaltige Stadt. Es wird keine Einkaufszonen mehr wie heute geben, andere Formate und Strukturen entstehen. Außerdem ist Hamburg eine der besten virtuell präsenten Städte der Welt, genau deshalb kommen viele Menschen gern hierher. Und da setze ich nicht auf Quantität, sondern auf Qualität.